Ist Trauer weiblich?

Auch wenn wir in Zeiten der Pandemie bei Museen und Ausstellungen vor geschlossenen Türen stehen, gibt es immer noch Kulturorte, die geöffnet sind, die Friedhöfe. Beim Schlendern über Stadtfriedhöfe in der Deutschschweiz sah ich viele Skulpturen als Grabmale. Nun ist ungefähr die Hälfte der Menschheit männlichen Geschlechtes und deshalb sicherlich auch die Toten. Es gibt ausser der wichtigsten männlichen Figur im Christentum noch unzählige Heilige, die über den Gräbern wachen könnten. Zumal in den Zeiten, aus denen die meisten dieser Skulpturen stammen, das Patriarchat noch kaum in Frage stand. Deshalb war ich umso erstaunter, dass Grabsteine grösstenteils Frauengestalten zieren.

Klageweiber, die schreiend, sich die Haare raufend neben Särgen an der Beerdigung anwesend sind, kennen wir aus früheren Filmen oder anderen Kulturen. Schon die alten Ägypter, Römer und Griechen bezahlten diesen Frauen, die die rituelle Totenklage ausübten, ein Honorar. Deshalb konnten sich eher die wohlhabenden Leute solche Klageweiber leisten. Welche Bedeutung steckt dahinter? Dass ein verstorbener Mensch, der beim «empfindsamen» Geschlecht keine Wehklage hervorruft, nicht wirklich gelebt hat? Und warum müssen es denn Frauen sein, die trauern? Das habe ich mich bei diesen Spaziergängen gefragt.

Unter dem Begriff der Sepulkralkultur wird die Kultur des Sterbens, des Begräbnisses und des Trauerns verstanden. Heutzutage werden die Verstorbenen eher kremiert und es existieren Naturbestattungen, bei denen die Asche der Natur zurückgegeben wird. Die meisten der aufwendigen Skulpturen auf diesen Friedhöfen stammen aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damals war die Erdbestattung in Einzelgräbern, Familiengräbern und unter Grabdenkmälern noch üblich. Die Totenfürsorge lag dabei meist in den Händen der Frauen.

Grabdenkmäler wurden bereits für die Jungsteinzeit nachgewiesen. In der frühchristlichen Zeit wurden die Verstorbenen jedoch in Katakomben bestattet. Im frühen Mittelalter wurde oft der Toten auf Grabplatten gedacht. Später wurden die Figuren der bedeutenden Verstorbenen auch plastisch abgebildet. Doch diese Gedenkstätten waren der weltlichen und kirchlichen Oberschicht vorbehalten. Im ausgehenden Mittelalter wurde auf die Vergänglichkeit alles Irdischen hingewiesen und zwar mit dem Knochenmann. Seither gab es dann allegorischen Szenen, die die Tugend und das Gute repräsentieren und die die Gefühle der Trauernden zum Ausdruck bringen sollen. Und diese werden eben meistens in Frauengestalt erschaffen.

Aber es waren ja nicht einfach bekleidete Frauenplastiken, die ich sichtete. Nein, es waren ausnehmend ästhetische Statuen, die ich ausmachte, solche, die halb entblösst oder auch ganz nackt waren. Bei unverhülltem Busen kommen mir sofort die Allegorien in den Sinn wie die Gerechtigkeit oder die Fruchtbarkeit. Hier nun also die makellose Trauernde, die in ihrer Formvollendung die Reinheit ihres Empfindens ausdrückt. Da den Frauen sowieso die Gefühlswelt zugeschrieben wurde, sind sie prädestiniert, als Personifizierung der Trauer verstanden zu werden. Durch das Bild der schönen Frau sollen die Schrecken des Todes verdrängt werden. Ariès meinte, dass die damalige Zeit den Tod in romantischer Verklärung sehen wollte. Süss und gar verlockend! Und damit wird klar, das Sepulkralplastik vor allem weiblich war.

Bei den früheren Frauenskulpturen auf den Gräbern fallen einem/r die gefühlsbetonten Haltungen auf: wie in sich versunken, gebückt, melancholisch, wehmütiger Blick. Die  Blumen streuende Gestalt kann wohl als  Geste des Abschieds und Ueberganges gedeutet werden. Auch die Trost spendenden Hände sind als Motiv beliebt.

Die Allegorie der Trauer und das Abbild der trauernden Frau werden in diesen Skulpturen eins. Dabei sollte eigentlich die ganze Gesellschaft um ihre Toten trauern, aber sie überliess die Totenfürsorge und das öffentliche Trauern dem weiblichen Geschlecht. Da lebenden Frauen jeweils eine bestimmte Gefühlskompetenz zugeschrieben wird und wurde, konnte diese in schwierigen Situationen quasi abgerufen werden. Und diese soziale Praktik wurde dann auf die Grabmäler übertragen.

Die Lust und der Tod: Freud hat in «Jenseits des Lustprinzips» die These gewagt, dass unsere verschiedenen Triebe eigentlich auf die beiden wesentlichsten zusammengefasst werden könnten: Eros und Thanatos. Eros dränge uns zur Verbindung und Verschmelzung mit den anderen, Thanatos wolle die Auflösung der Bindung, die Ruhe, die endgültige  Befriedigung der Sinne, also den Tod. Eros, der uns in die Befriedigung der Lust treibe, dies aber auch verbunden mit Schmerzen und Thanatos, der uns zum Ende des Begehrens und somit dem Ende der Schmerzen anhalte. Lust und Tod: auf immer verbunden.

Der Tod stürzt die Hinterbliebenen in emotionale Verunsicherungen. In der damaligen Zeit sollten, ausser der Trauer, alle anderen Gefühle domestiziert werden. Die weiblichen Grabskulpturen können verstanden werden als Synthese von Eros, Tod und Trauer.  Die Schönheit kann das Reine versinnbildlichen, aber ebenso sinnliche Gefühle wecken. Da diese Fantasien in der bürgerlichen Welt eher unterdrückt werden mussten, standen also die unverhüllten Figuren auf den Friedhöfen auch zu erotischen Projektionen zur Verfügung. Da dies aber im öffentlichen Raum geschah, wurden die sinnlichen Fantasien gleich wieder zurückgebunden. Schliesslich konnten die Wünsche der Verführung nicht an diesem pietätsgeladenen Ort realisiert werden.

Dass es sozusagen keine männlichen nackten Grabfiguren gibt, erkläre ich mir mit dem damaligen «männlichen Blick». Einerseits sind Grabmäler die kultivierte Verewigung von privatem Schmerz, andererseits aber auch eine Machtdarstellung im öffentlichen Raum und der wurde von männlichen Bedürfnissen gestaltet.

Was aber anscheinend überdauert, ist, dass sich Frauen für die Trauerkultur zuständig fühlen. So gibt es neuerdings die Fährfrauen, die sich als eine Art Hebammen für den Prozess des Sterbens verstehen. Sie begleiten in Gesprächen, nehmen Anteil und organisieren Abschiedsfeiern.

In unserer säkularer werdenden Welt, in der die Erotik im Alltag einen ganz anderen Stellenwert gewonnen hat, bedarf es also dieser nackten Weiblichkeit als Grabfiguren immer weniger. Und auch der männliche Blick weicht zunehmend einem menschlichen Blick.

Nichtsdestotrotz lohnt es sich, mit offenen Sinnen durch unsere Friedhöfe zu schlendern und sich Gedanken zu machen über ehemalige und heutige Geschlechterverhältnisse und die Auflösung von Traditionen in der Sepulkralkultur.

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