Die zwei Brüder Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und Alexander (1769-1859) sind in Berlin gerade wieder mal in aller Munde, weil sie die Namensgeber für das neue Humboldt Forum sind. Als ich darüber mit Kolleg*innen sprach, meinten sie, bei uns in der Schweiz wären die Humboldts kaum bekannt, wir würden uns eher mit unserem Pestalozzi begnügen und ich solle doch darüber schreiben. Nun gibt es unzählige Geschichten und Biographien zu den beiden und deshalb kann ich im Blogbeitrag bloss ein paar Themen anschneiden.
Was waren die Voraussetzungen, dass gerade diese Brüder einen so grossen Einfluss auf das Verständnis von anderen Kulturen, auf Erkenntnisse in der Wissenschaft und auf ethische Fragen hatten?
Aufgewachsen in einem durch die Mutter sehr wohlhabenden Elternhaus, Schloss Tegel gehörte ihr, und den Beziehungen durch Grossvater und Vater zum preussischen Königshaus, mangelte es im Haushalt der Humboldts nicht an pekuniären Mitteln, den Sprösslingen die allerbeste Erziehung durch renommierte Hauslehrer angedeihen zu lassen. Was aber abnormal war, diese Lehrer standen alle dem aufklärerischen Denken nahe. Kein Gott, keine Bibel und keine theologischen Dogmen festigten rigide Moralvorstellungen. Nach dem Tode ihres Mannes (1779) war die belesene Mutter dafür zuständig, dass die Orientierung der Erziehung sich nach den Idealen von Jean Jaques Rousseau richtete. Dafür engagierte sie äusserst progressive Privatlehrer. Der immense und arbeitsintensive Bildungsplan umfasste geistes-, wirtschafts- und naturwissenschaftliche Fächer. Diese bildeten die Buben gezielt aufs Universitätsstudium vor. Alexander beschäftigte sich daneben gerne mit Insekten, Steinen und Pflanzen. Durch Fachlehrer wurde auch sein Zeichentalent geschult, was ihm bei seinen zukünftigen Expeditionen sehr zugute kam. Auch auf die alten und neuen Sprachen wurde viel Wert gelegt, was beiden Brüdern Vorteile in der Kommunikation auf ihren Reisen und mit anderen Wissenschaftlern verschaffte. Da die Mutter von Hugenotten abstammte, wurde dem Französischen grosse Wichtigkeit beigemessen. Diese Sprache war damals sowieso die Lingua Franca, wie heute das Englische. In diesem freigeistigen Milieu war es auch klar, dass man für die jüdische Emanzipation eintrat. Dadurch erhielten die Gebrüder Eingang in den Salon von Henriette Herz und kamen in Kontakt mit vielen weiteren jüdischen Intellektuellen. Henriette war etwa im selben Alter und lehrte die sprachgewandten Brüder gleich noch das hebräische Alphabet. So hatten sie in ihren Briefen gleichzeitig eine Geheimsprache. In diesen Briefen enthüllte Wilhelm seine Liebe zu der verheirateten Henriette. Jüdische Salons und Gesellschaften zu besuchen wurde quasi alltäglich für die Brüder, dort wurde über Wissenschaften, Philosophie, Kunst und Politik diskutiert.

Ihr müsst euch vorstellen, um 1789 herum zwanzig Jahre alt zu sein: überall LIBERTE und EGALITE, Aufbruch, verkrustete Strukturen lösen, Grenzen ausloten und mittendrin diese zwei jungen Männer. Und anscheinend liessen sie auch nichts anbrennen, schwärmten, hatten Liebesbeziehungen. Wilhelm erwärmte sich für Frauen, Alexander wird heutzutage mit mehreren männlichen Namen in Verbindung gebracht. Sie verkehrten in den intellektuellen Salons in Berlin und Paris und selbst Goethe und Schiller sahen in ihnen diskussionswürdige Partner.

Da Alexander von seinem Studium der Staatswirtschaftslehre unterfordert war, hörte er daneben Altertumswissenschaften, Medizin, Physik und Mathematik. Nach Abschluss des Studiums nahm er gleich noch das Bergmann-Studium auf. Er war immer auch schon Praktiker gewesen. Bereits als Teenager hatte er an Tieren und an sich Experimente vollzogen. Sein Tatendrang liess ihn morgens mit den anderen Bergleuten in die Gruben fahren und pickeln, nachmittags besuchte er die Vorlesungen und die halbe Nacht widmete er seinen Hausaufgaben.
Seine ersten Studienreisen machte er 1790 durch die Niederlande, England und Frankreich. Nach seinem Umzug nach Paris 1798 startete er ein Jahr später zu seiner fünfjährigen Amerikareise. Mit reicher wissenschaftlicher Ausbeute kehrte er heim und verarbeitete sie in einem 29-bändigen Reisewerk. 1828 kehrte er nach Berlin zurück und hielt die berühmten Kosmos Vorlesungen an der Universität, die sein Bruder Wilhelm gegründet hatte. Da er sein faszinierendes Wissen selbst den unteren Ständen und den Frauen zugänglich machen wollte, dozierte und erzählte er auch in der benachbarten Singakademie vor 1000 ZuhörerInnen.
Es folgten noch Expeditionen nach Russland und Zentralasien. Danach fasste er sein Hauptwerk Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung ab. Darin hatte Alexander der erd- und naturwissenschaftlichen Forschung neue Horizonte erschlossen. Er erhielt diplomatische Aufträge und engagierte sich in der Wissenschafts- und Kulturpolitik Preussens.
1857 wurde in Preussen endlich das Gesetz gegen Sklaverei beschlossen, für das Alexander sich intensiv eingesetzt hatte: «Sklaven sind vom Augenblick an, wo sie Preussisches Gebiet betreten, frei: Das Eigentumsrecht des Herrn ist von diesem Zeitpunkt an erloschen.» Zwei Jahre danach starb er verarmt in seiner Wohnung in Berlin. Sein Vermögen hatte er schon lange davor für seine Reisen und die Publikation seiner Werke ausgegeben. An seiner Beerdigung erlebte Berlin einen Tag der Volkstrauer. Sein Sarg wurde neben Schloss Tegel im Familiengrab beigesetzt.

Wilhelm, der Ältere, wurde 1767 geboren. Im Gegensatz zu seinem Bruder lagen seine Schwerpunkte in den kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen. Die Bildungspolitik und die Reform des Unterrichtswesens gehörten zu seinen grossen Anliegen. Eigentlich sollte er Jurisprudenz studieren, was er auch tat, aber er widmete sich mehr der Philosophie, Geschichte und den alten Sprachen.
Nach seiner überstandenen Verliebtheit in Henriette Herz heiratete er 1791 Caroline von Dacheröden. Sie hatten gemeinsam acht Kinder und führten eine offene Ehe mit wechselnden anderen PartnerInnen. Was wiederum auf die freie geistige Haltung hinweist, mit der beide Brüder erzogen wurden. Wilhelm und Caroline das Skandalpaar des 19. Jahrhunderts???
Als die Mutter der Brüder 1796 starb, ging ihr Vermögen auf Alexander und Wilhelm über. Alexander finanzierte sich damit seine Amerika-Expedition. Auch Wilhelm zog mit seiner Familie nach Paris. Dort interessierte er sich zwar für Kunst und Architektur, aber sein Augenmerk lag auf den Verhältnissen in den Spitälern, Gefängnissen und Waisenhäusern. Sein Fazit daraus: «Alle Laster entspringen aus dem Missverhältnis der Armut gegen den Reichtum. In einem Lande, worin durchaus ein allgemeiner Wohlstand herrschte, würde es wenig oder gar keine Verbrechen geben. Darum ist kein Teil der Staatsverwaltung so wichtig als der, welcher für die physischen Bedürfnisse der Untertanen sorgt.»

Auch er unternahm Reisen in Europa. Dabei erforschte er dabei das Baskische, das ihn mit seiner besonderen Grammatik faszinierte. Daraufhin widmete er sich den Sprachen der indigenen Völker Amerikas und vielen weiteren Sprachen. So ist seine intensive Beschäftigung mit dem Sanskrit legendär. Am Esstisch der Humboldts soll er mit seinen Töchtern Sanskrit parliert haben. Das Yoga hat er durch diese indischen Texte bereits kennengelernt und es wurde in seinen Kreisen bekannt gemacht. Seine linguistischen und philosophischen Untersuchungen waren sehr breit und er gilt als Begründer der vergleichenden Sprachwissenschaft. Dabei sah er Sprache nicht eng grammatikalisch, phonetisch, sondern als «das bildende Organ, der Gedanken», das den Zugang zur Welt darstellt.

Aber er war eben auch Diplomat und Minister. Und in seiner Eigenschaft als Bildungsminister setzte er sich für die Reformierung des Schulwesens ein. Er wollte allen Schülerinnen und Schülern ungeachtet ihrer Herkunft das «Lernen des Lernens» beibringen. Sie sollten darauf vorbereitet werden, selbstständig und mündig zu handeln.
Zudem veranlasste er 1810 die Gründung einer Universität in Berlin. Dort sollte eine frei lernende und forschende Gemeinschaft entstehen ohne staatlichen Einfluss. Für ihn selbstverständlich sollten dort auch die Frauen studieren können. Die Gründung gelang zwar, doch seine Ideen wurden als zu radikal empfunden und die Frauen erhielten erst 1908 Zugang zu den Hochschulen in Preussen.

Da er seine liberalen Bestrebungen in späteren Jahren in Gefahr sah, trat er von seinen Ämtern zurück, vertiefte seine sprachwissenschaftlichen Forschungen und lehrte an der Akademie der Wissenschaften. Er lebte auf Schloss Tegel bis zu seinem Tod im Jahre 1835.
Das Moderne und Gemeinsame der Brüder war sicherlich ihre liberale Haltung, Standesdünkel waren ihnen genauso suspekt wie vaterländischer Stolz. Die Französische Revolution war neben ihrer Erziehung im Elternhaus die Ursache für ihre Bestrebungen, die Grenzen zwischen den Menschen aufzuheben ob in Ständen, Bildung, Auskommen. Sie strebten eine «Verbrüderung der Stämme», der ganzen Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe an.

Wobei sie durchaus intelligent genug waren, um die Widersprüche in ihrem Leben zu analysieren. Alexander war für seine Expeditionen auf die finanzielle Unterstützung von Herrschern angewiesen, er nächtigte oft in Häusern von Sklavenhaltern. Aber er konnte dadurch eben auch seine offene Haltung in Diskussionen kundtun. Da seine Gesinnung allgemein bekannt war, hatte er jedoch immer wieder Schwierigkeiten, Geld für seine Forschungsreisen aufzutreiben. Er hätte einige mehr machen wollen, doch niemand fand sich zur Finanzierung. Auf seiner Reise durch Russland wurde ihm genau vorgegeben, wohin er reisen durfte, weil die Angst bestand, er könnte Völker aufwiegeln.
Dass das Humboldt Forum in Berlin nun den Namen der Brüder träg, finde ich positiv. Denn sie haben uns Leitlinien offenbart, die grundlegend sind für das Verständnis von anderen Kulturen, von empirischer Wissenschaft, der Bedeutung von Sprache etc. Heutzutage aber sind die aktuellen Diskussionen um Restitution und Zurückgabe von Kulturgütern sehr wichtig und die Reflexion über die ausbeuterischen Auswirkungen unserer kolonialen Vergangenheit.
Was ich deplatziert finde, ist das Kreuz auf der Kuppel des Forums. Denn nichts lag den beiden ferner, als das Christentum in die weite Welt zu tragen.

Ich hoffe, ich konnte euch eine winzige biographische Skizze zum Leben der Gebrüder Humboldt zeichnen. Ja, dies war das Leben zweier alter, weisser Männer. Trotzdem, mich fasziniert ihre moderne Gedankenwelt, die auch zweihundert Jahre später noch mehrheitlich aktuell ist.
Falls ihr mehr Details wissen möchtet, die findet ihr in Wikipedia. http://www.wikipedia.de
Ich entnehme meine Informationen vor allem aus dem Katalog, der anlässlich der Humboldt-Ausstellung 2019 im Deutschen Historischen Museum publiziert wurde und der damaligen Ausstellung.
Die Fotos habe ich im Humboldt Forum gemacht. Ich entschuldige mich für die schlechte Qualität, aber die Fotos zu den Brüdern sind auf hohen Fenstern abgebildet. http://www.humboldtforum.org
Daniel Kehlmann hat in seinem Roman «Die Vermessung der Welt» die beiden alten Wissenschafter Carl Friedrich Gauss und Alexander von Humboldt beschrieben. Dort kämpft der letztere sich durch den Urwald, befährt den Orinoko und erprobt Gifte am eigenen Körper.